Familienausflug Brenta

Wenn die Mutter mit dem Sohne... Klettersteigbiken in der Brenta.
Pedaliero Magazin 04/2011 I Autoren Uta Philipp & Harald Philipp

© Uta Philipp I Alpenpano

PLENK! – metallisch, hart dröhnt es in meinem Kopf. „Ich kann Rad fahren!“, jubelt Harald, als das kleine Kinderrädchen immer schneller den sanft geneigten Weg hinab zum Schulhof rollt. Der Papa hält die Stützräder, die er gerade abmontiert hat, noch in der Hand. Mitten auf dem weiten leeren Schulhof steht eine einzige einsame Laterne. „Lenken!!!“, rufe ich noch und fange an zu rennen, bin schon fast auf gleicher Höhe mit dem Hinterrad, versuche den Gepäckträger zu greifen ... PLENK.

Muss ich mich wundern, jetzt und hier so deutlich ein Geräusch zu hören, das vor fast 25 Jahren auch schon einmal ertönte? Wir sind auf einem Klettersteig in der Brenta unterwegs. In den Felsen auf der anderen Schluchtseite weit unter uns bewegen sich vorsichtig zwei Bergsteiger voran, klinken ihre Karabiner an den Drahtseilverankerungen um, blicken nicht zurück. Ich stehe auf einem Felsabsatz und hantiere mit meinem Fotoapparat, habe mich hier extra aufgestellt, mitten im „Weg“, damit Harald nicht vorbeifahren kann, sondern schiebt, hier, wo der Abgrund durch den Schatten und die Nässe und das alte Schneefeld noch grausiger wirkt.

Aber er steigt auf und fährt los, denn – ich geb’s ja zu – er kann inzwischen Rad fahren. Die Steine und Felsabsätze auf dem Weg sind Routine, nur die Felswand auf der linken Seite kommt so nah, dass er den Lenker nach außen drehen muss, zum Abgrund hin, 600, 700 Höhenmeter werden es schon sein, die es da hinuntergeht, ich drücke mal auf den Auslöser, bevor ich die Augen zumache.

© Uta Philipp I Alpenpano

„Mama, geh mir aus dem Weg, ich will da fahren!“ Ich balanciere mein Bike auf einem knapp 50 Zentimeter breiten Felsband, mitten in der Steilwand, und sehe unter meinem rechten Bremshebel hinab ins nix. Was meine Mutter wohl dazu sagen würde, kann ich hier live erleben. Sie leidet still, macht ein Foto und den Weg frei. Zugegeben, eine recht skurrile Situation. Aber für Familie Philipp doch gar nicht so außergewöhnlich.

Kaum eingeschult, war ich als Alpinist einsetzbar. „Uta-Touren“ waren jene prägenden Bergsteiger-Abenteuer meiner Kindheit, bei denen sich das Wetter und die Berge garantiert von ihrer schlimmsten Seite zeigten, das Budget und der Abenteuerdrang der Mutter aber jeglichen Komfort verbot. In Gewitterstürmen auf der Sella, beim Schneezelten am Gran Paradiso und höhenkrank unterm Mont Blanc lernte ich viel über das Leben. Ich lernte zu lachen, egal wie schlimm es kommt. Ich lernte Berge einzuschätzen, und mich selbst.

Das Radfahren lernte ich erst später. Doch heute kann ich nicht widerstehen, wenn ich im Klettersteigführer von einer Route lese, die scherzhaft „Strada bassa per ciclisti“ genannt wird. „Unterer Radweg“ – was für eine Einladung!

© Uta Philipp I Alpenpano

© Uta Philipp I Alpenpano

© Uta Philipp I Alpenpano

© Uta Philipp I Alpenpano

Natürlich ist es gefährlich, hier mit dem Rad zu fahren. Jeder Meter will überlegt sein oder, besser gesagt, gefühlt sein. Wenn das Bauchgefühl sagt „lass es sein!“ – dann hat es verdammt noch mal recht. Drum ist „Rad-FAHREN“ auch ein Begriff, der hier nur teilweise zutrifft. Berghoch ist an Radln nicht zu denken, und auch bergab ist das Schultern des Bikes oft notwendig. Aber jeder gefahrene Meter ist es wert, da man ihn umso intensiver erlebt!

© Harald Philipp

Das Gipsbein und die Gehirnerschütterung vor fast 25 Jahren waren bisher die einzigen schweren Folgen, die mein Sohn dem Radfahren verdankt. Seitdem meidet er geteerte Wege und flache Schulhöfe. Aber ja, es ist gefährlich. Passieren kann immer etwas. Wer in diesem Gelände abstürzt, ist tot, und es ist vorbei. Das verdrängt man nach Möglichkeit als Mutter und es ist auch großartig, die vielen schönen Fotos und Filme des Sohns anzuschauen, aber persönlich dabei zu stehen oder sogar fotografieren zu müssen – glaubt mir, das ist hart.

Der Preis für ein Leben am Abgrund kann sehr hoch sein. Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob es sich lohnt. Oder bleibt da einfach keine Wahl mehr, wenn du einmal gespürt hast, wie intensiv, tief empfunden und bewusst das Leben wird?